Zum 10. September



Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. - Joh. 1, 29

Dies ist der Spruch, den Johannes als der vom Vater gesandte Vorläufer Christi, der auf den Sohn hinweisen und Sein Werk für die Welt verkündigen sollte, in heiliger Freude ausrief, als er Jesus zu sich kommen sah. Es ist der Kernspruch von dem eigentlichen Werk Jesu auf Erden, ein Spruch, der es wohl wert wäre, dass bei seinem Ausrufen alle Glocken geläutet würden; er wird in allen unseren Kirchen über unseren Häuptern gesungen, wenn wir unsere Knie am Altar beugen, um den Leib und das Blut Jesu zu empfangen: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt.“
„Das Lamm“, „das Lamm Gottes“ heißt es im Grundtext. Wenn Johannes in dieser bestimmten Form vom Lamme redet, dann erinnert er an alle jene Lämmer, die in dem vorbildenden Gottesdienst in Israel geopfert worden sind, unter denen die Passahlämmer die merkwürdigsten waren — eine unzählbare Menge von Vorbildern, da man in jedem Hause jährlich ein Lamm opferte. Da Johannes hier aber nicht nur „das Lamm“, sondern „Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ sagt, so scheint er Jes. 53 im Auge gehabt zu haben, wo wir sowohl die Sache als auch die Worte dieses Spruches wiederfinden. Denn dort wird nicht nur gesagt, dass Christus sein werde „wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut“, sondern auch, dass Er der Welt Sünden tragen solle. Da steht: „Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, ein jeglicher sah auf seinen Weg; aber der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn“; und wiederum: „Er trägt ihre Sünden“; „Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf Ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch Seine Wunden sind wir geheilt.“ Alles das drückt Johannes mit diesen kurzen, inhaltsreichen Worten aus, indem er mit dem Finger auf Jesus hinweist und ausruft: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt.“
Wundert sich nun jemand, ob dies wirklich geschehen ist, da wir doch unausgesetzt sehen, wie die Sünde noch in der Welt verblieben ist und wir sie auch in uns selber wohnend fühlen, so müssen wir bedenken, dass hier von einem Wegnehmen die Rede ist, das durch ein Opfer geschieht. Durch die vorbildenden Opfer wurde nur das Wegnehmen oder die Übertragung der Schuld und der Strafe von dem schuldigen Menschen auf das dargebrachte Opfertier bezeichnet, das deshalb geschlachtet wurde. Das sagt auch Jesaja mit den Worten: „Der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn“, und wiederum: „Er ist um unserer Missetat willen verwundet; die Strafe liegt auf Ihm.“ Weder in diesen Worten noch in der vorbildenden Handlung des Opferns liegt eine Andeutung vom Entfernen der Sündenseuche aus dem sündigen Menschen, sondern da wird nur von der Strafe gesagt, dass sie auf Ihn gelegt wurde, „auf dass wir Frieden hätten“. So sagt auch der Hebräerbrief: Wenn das Opfer wirklich die Sünde wegnimmt, so sollen wir sie nicht auf dem Gewissen tragen. Es wird zum Beweis dafür, dass die levitischen Opfer die Sünden nicht wegnahmen, gesagt, dass diejenigen, die so opferten, sie noch auf dem Gewissen hatten. Zur vollen Gewissensfreiheit von den Sünden ist jetzt nur erforderlich, dass wir wirklich das glauben und wissen, was das Opfer des Lammes ausgerichtet hat. Hier hängt es also nur davon ab, inwiefern wir glauben. An dem Werk Christi fehlt es nicht. Das Lamm Gottes hat mit Seinem Opfer die Sünden der Welt wirklich weggenommen. Wenn wir darum noch selber an unseren Sünden tragen und weder Frieden noch Freiheit des Gewissens haben, dann ist der Fehler dieser, dass wir nicht glauben, was Gott von Seinem Sohn bezeugt hat, dass Er nämlich alle unsere Sünden auf Ihn warf. Hier sollen wir sehen, was glauben heißt und welch eine verdammliche Sünde der Unglaube ist.
Mit diesem Spruch vor Augen ist der Glaube eine so einfache Sache; wir brauchen ja nur die Worte für wahr zu halten, dass das Lamm Gottes der Welt Sünde trägt oder, wie es bei Jesaja heißt, dass der Herr unser aller Sünde auf Ihn warf. Unsere volle Freiheit von der Schuld der Sünde und dem Urteil vor Gott und unserem Gewissen beruht auf dieser einfachen Wahrheit! Wenn eine Sache von ihrer Stelle genommen und auf eine andere gelegt wird, so liegt sie nicht mehr auf der früheren. Wenn deine Sünden also auf das Lamm Gottes gelegt sind, dann liegen sie nicht mehr auf dir. Da Gott deine Sünden auf das Lamm geworfen, sie Ihm zugerechnet und an Ihm abgestraft hat, so stehen sie nicht mehr auf deiner Rechnung. Ganz gewiss bist du derjenige, der sie begangen und der das Gesetz Gottes übertreten hat; da der Herr sie aber aus großer Barmherzigkeit von dir genommen und auf Sein Lamm geworfen hat, so wird Er dir wahrlich diese Sünden nicht zurechnen. Hierüber lauten Luthers tröstliche Worte: „Gott der Herr sprach: Ich weiß, dass dir deine Sünden zu schwer sind zu tragen; deshalb sieh, Ich will sie auf Mein Lämmlein legen und von dir wegnehmen. Das selbige glaube du; denn so du das tust, bist du frei von Sünden. Es hat sonst die Sünde nur zwei Orte: Entweder ist sie bei dir, dass sie dir auf dem Halse liegt, oder sie liegt auf Christus, dem Lamm Gottes. So sie nun dir auf dem Rücken liegt, so bist du verloren; so sie aber auf Christus ruht, so bist du ledig und wirst selig. Nun greif, zu welchen du willst. Dass die Sünden auf dir bleiben, das sollt’ wohl sein nach dem Gesetz und Recht; aber aus Gnaden sind sie auf Christus, das Lamm, geworfen. Sonst, wenn Gott mit uns rechten wollte, so wäre es um uns geschehen.“
Hirtenstimme 1915/166





Diese Tagesandacht stammt aus dem „Täglichen Seelenbrot“ von Carl Olof Rosenius. Die Andachten des gesamten Jahres sind in Buchform hier erhältlich.


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