Zum 19. April



Du sollst nicht stehlen! - 2. Mose 20, 15

Lasst uns sehen, was unter Stehlen und Dieberei verstanden werden soll. Allgemein wird darunter jede Weise verstanden, in der wir unserem Nächsten sein Eigentum entwenden, mag es heimlich oder offenbar, mit Gewalt oder mit List, unter der groben Gestalt des Verbrechens oder unter dem Schein von Gesetz und Recht geschehen. Stehlen ist etwas so Grobes und Hässliches, dass die meisten Menschen von dieser Sünde frei zu sein glauben. Mag es einem auch gelingen, sonst ehrbare Weltmenschen von der Verletzung der übrigen Gebote zu überzeugen, so sind sie doch ganz anderer Meinung, wenn man zu dem siebenten Gebot kommt; ihm gegenüber meint man gerecht zu sein. Man hat doch nicht gestohlen, seine Hand nicht nach dem Eigentum anderer ausgestreckt und hält es darum auch für eine entsetzlich harte Rede, rechtschaffene Menschen einfach zu Dieben machen zu wollen!
Ja, wahrlich, hieße nur das stehlen, dass man die Schlösser anderer aufbricht und in so grober Weise Geld und Eigentum entwendet, dann wären gewiss die meisten Menschen gerecht vor diesem Gebot. Wie ganz anders aber sieht es aus, wenn wir es im Lichte der Erklärung Christi betrachten! Welch eine zerknirschende Entdeckung, wenn du durch eine solche Erklärung gewahr wirst, dass auch du ein Dieb bist! Wird es einem gegeben, zu sehen und vor den Augen Gottes zu bedenken, dass jede Weise, sich zum Schaden des Nächsten einen Gewinn zu verschaffen, Diebstahl ist, mag es nun z. B. bei einem Handel, den man für günstig ansieht, durch das geschehen, was man bezeichnend „Spottpreis“ nennt, oder dadurch, dass der Verkäufer viel zu viel für seine Ware fordert und erhält, oder aber durch eine fahrlässige Arbeit des Tagelöhners usw. —, so wird man die Wahrheit der Worte Luthers finden, dass „kein Nahrungszweig auf Erden so allgemein ist wie der Diebstahl“, dass dieser „ein so weitläufig allgemeines Laster, aber so wenig geachtet und wahrgenommen ist, dass, wo man sie alle an Galgen hängen sollte, was Diebe sind und doch nicht heißen wollen, soll die Welt bald wüste werden und an Henkern und Galgen gebrechen“.
Wir reden jetzt nicht vom Herzen oder davon, wie Gottes Augen auf dich als auf einen Dieb gerichtet sind, während du das Eigentum deines Nächsten noch nicht um einen Heller verkleinert hast, auch wenn du Lust dazu hast und nur aus Furcht und Vorsicht davon abgehalten wirst. Wir reden noch vom Diebstahl im Werk und in der Tat. Und dann wiederholen wir es noch einmal und bitten einen jeden, ernstlich zu bedenken, was darin liegt, dass jede Weise, das Eigentum des Nächsten zu verkleinern, tatsächlich Diebstahl ist. Man stiehlt nicht nur, wenn man Kisten und Taschen plündert, sondern auch, wenn man auf dem Markt oder in den Kaufläden für eine Ware zu viel verlangt oder zu wenig gibt oder wenn man in der Werkstatt schlechte oder betrügerische Arbeit verrichtet und volle Bezahlung nimmt oder wenn ein Knecht oder eine Magd im Hause nicht treu arbeitet oder etwas verderben lässt, mit einem Wort, nicht um das Beste der Hausherrschaft besorgt ist oder wenn man in teurer Zeit auf Grund der Verlegenheit und Not des Bedürftigen unbillig hohe Zinsen auf ausgeliehene Gelder nimmt usw. In solcher Weise kannst du deinem Nächsten bald zehn, zwanzig, fünfzig oder hundert Mark entwenden und bist dennoch frei, während mancher wegen viel Geringerem im Gefängnis gewesen ist, nur weil er sich einer anderen Weise des Diebstahls bediente.
In jedem Gebot ist aber nicht nur etwas verboten, sondern auch etwas befohlen. Das ist auch bei dem siebenten der Fall. Es enthält nicht nur, dass wir nicht stehlen sollen, sondern dass wir, wie es im Kleinen Katechismus Luthers ausgedrückt wird, auch „unserem Nächsten sein Gut und seine Nahrung bessern und behüten helfen“. Wenn wir bedenken, dass der Herr mit demselben Ernst, mit dem Er das Böse verbietet, auch das Gute von uns fordert, dann wird dieser Teil der Betrachtung noch tiefer auf uns eindringen und auch die zu Sündern machen, die es im vorigen noch nicht geworden sind. Dazu aber ist es erforderlich, dass wir nicht auf das Ansehen der Werke schauen, sondern dass Gott selber für uns von Bedeutung ist. Die Welt und die Vernunft sagen: „Wenn ich einem anderen nichts nehme, dann darf ich frei und nach Belieben mit dem handeln, was mir gehört.“ Im Reiche Christi aber gilt ein anderes Gesetz: „Du sollst deinem Nächsten nicht nur nichts Böses zufügen, sondern im Gegenteil ihm mit den Gaben und den Mitteln, die Gott dir dazu verliehen hat, alles Gute tun. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Wer nichts Böses tut, begeht doch große Sünde, wenn er nicht das Gute tut, was er tun kann und soll. Denn Gott hat uns unser irdisches Gut nicht gegeben, damit wir nur uns selber damit dienen, sondern auch unseren Nächsten Gutes damit tun, als die Verwalter unseres Herrn, die kein Recht dazu haben, mit Seinen geschenkten Gaben zu tun, was sie gelüstet, sondern was Seine heiligen Liebesabsichten fordern. Das ist der Grund einer ganzen Kette von Pflichten, von denen die Welt nichts weiß. Lasst uns darum auf der Goldwaage des Liebesgebotes noch besser unser Verhalten dem siebenten Gebot gegenüber wägen. Wir werden dann mit Erstaunen finden, wie fast alle unsere Werke, unser Essen und Trinken, unsere Arbeit und Ruhe, unsere Sparsamkeit und Freigebigkeit, alles, alles mit der Sünde gegen dieses Gebot befleckt und durchsäuert ist.
I/358

Herr, öffne mir die Tiefe meiner Sünden,
Lass mich auch seh’n die Tiefe Deiner Gnad’;
Lass keine Ruh’ mich suchen oder finden,
Als nur bei Dir, der solche für mich hat,
Der meine Seel’ so gern erquickt,
Wenn meine Sündenschuld mich drückt.




Diese Tagesandacht stammt aus dem „Täglichen Seelenbrot“ von Carl Olof Rosenius. Die Andachten des gesamten Jahres sind in Buchform hier erhältlich.


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